Vergleich der Optionen für den Aufbau eines Stadtbahnsystems in Hamburg (HFI Ausgabe 1/99, Heft 63)
Zu diesem Thema werden in der Hamburger Fachöffentlichkeit drei
Möglichkeiten zur Realisierung eines modernen Stadtbahnsystems diskutiert.
Für alle drei Varianten gibt es Praxisbeispiele in anderen Städten.
Die Optionen bestehen in
- der Einführung eines reinen Niederflur-Straßenbahnsystems als
eigenständigem Verkehrsmittel, das neben U-, S-, und A-Bahn treten
würde.
- dem Ausbinden von U-Stadtbahnlinien aus dem bestehenden U-Bahnnetz
und der Verlängerung bestehender U-Bahnlinien als U-Stadtbahnlinien
bei Verzicht auf die Niederflur-Straßenbahn und
- der Kombination von 1. und 2., was sowohl eigenständige
Niederflur-Stadtbahnlinien als auch Linien bedeuten würde, die im
inneren Stadtbereich bestehende U-Bahnstrecken mitbenutzen würden.
Alle drei Varianten weisen systemspezifische Stärken und Schwächen auf.
1. Alleiniger Bau eines Niederflur-Straßenbahnsystems
Vorteile der Niederflur-Straßenbahn:
- Systemkongruenz innerhalb der Stadtbahn - auf allen Strecken fahren
Niederflur-Straßenbahnen.
- die einzelnen Linien sind miteinander kombinierbar, alle
Niederflur-Straßenbahnstationen sind grundsätzlich von allen Linien
anfahrbar.
- für die Wartung und den laufenden Betrieb der Niederflur-Straßenbahn
kann eine einheitliche Versorgung aufgebaut werden.
- Die Niederflur-Straßenbahn kommt mit ebenerdigen Bahnsteigen aus, die
für Behinderte, Leute mit Kinderwagen, Fahrrädern u.ä. bequem ohne
Stufen erreichbar sind.
- Sie ist bei ebenerdiger Strecke auch im Innenstadtbereich bequemer zu
benutzen als die in Hoch- oder Tieflage geführten U- und S-Bahnlinien.
- Abzweigbauten aus den bisherigen U-Bahnstrecken entfallen.
- Wenn Schienenverbindungen zu Güterbahnstrecken innerhalb des
Stadtgebietes geschaffen werden, kann im Rahmen von Stadt- und
Citylogistik-Konzepten von Umladestationen aus der Gütertransport mit
Containern auf speziellen Plattformwagen bis zu Güterverteilzentren
erfolgen. In die angrenzenden Stadtteile kann dann eine Feinverteilung
mit Elektrofahrzeugen vorgenommen werden.
Nachteile der Niederflur-Straßenbahn:
- Die Niederflur-Straßenbahn benötigt für radiale Strecken eigene Gleise
quer durch die innere Stadt; da die Strecken der bisherigen Bahnen dort
eng beieinander verlaufen, müssen Strecken doppelt gebaut werden.
Solche Parallelführung würde zu einer schwachen Auslastung und damit
zu einem ungünstigen Nutzen- /Kosten-Verhältnis führen.
- Bei Streckenführungen im Innenstadtbereich müssen auch enge Straßen
benutzt werden, was zu Konflikten mit Fußgängern, Radfahrern etc.
führen kann. Durch enge Kurvenradien und die möglichen Behinderungen
wird die Straßenbahn in diesen Streckenabschnitten langsamer fahren als
eine U-Bahn.
- Die Niederflur-Straßenbahn hat das Image einer Straßenbahn; eigene
Trassen, die nicht als Fahrbahn durch den Kfz-Verkehr mit genutzt
werden, sowie eine absolute Vorrangschaltung an Kreuzungen werden sich
daher schwerer durchsetzen lassen als bei einer U-Stadtbahn.
- Die Niederflur-Straßenbahn stellt ein weiteres Verkehrssystem neben
Fern-, S-, U-, A-Bahn und Bus dar. Sie ist mit den Haltestellen anderer
Bahnen nicht kompatibel.
Die Fahrgäste müssen daher beim Umsteigen auf separate
Schnellbahnlinien über Treppen laufen.
- Für die Niederflur-Straßenbahn werden von Anfang an eigene Wartungs-
und Reparaturanlagen benötigt.
Für deren Zugänglichkeit ist ein zusammenhängendes Netz erforderlich.
Einzelne Straßenbahnlinien können daher nicht wirtschaftlich betrieben
werden.
- Um die Niederflur-Straßenbahn wirtschaftlich betreiben zu können, wird
zur Einführung ein Grundnetz aus zwei Strecken mit einer beachtlichen
Mindestlänge von ca. 50 km benötigt. Die dafür veranschlagten Kosten
von ca. 800 Mio. DM müssen innerhalb der Bauzeit von ca. drei bis fünf
Jahren aufgebracht werden. Einer solchen Großinvestition stehen
gegenwärtig die Restriktionen des Haushalts entgegen.
2. Alleiniges Ausbinden von U-Stadtbahnlinien
und ebenerdige Verlängerung von U-Bahnlinien
Vorteile dieser U-Stadtbahn:
- Systemkongruenz zur U-Bahn. Es wird kein weiteres Verkehrssystem
geschaffen, sondern die bisherige U-Bahn wird durch den Einsatz von
Triebwagen modifiziert, die ihre Antriebsenergie sowohl konventionell aus
der Stromschiene als auch (mit der gleichen Spannung!) aus der
Oberleitung beziehen können, wenn sie im Straßenniveau fahren.
- Fahrgäste aus den im Straßenniveau geführten Stadtbahnlinien können
ins U-Bahnnetz einfahren und dort bahnsteiggleich zur U-Bahn
umsteigen.
- Die Einheitlichkeit der Haltestellen ermöglicht innerhalb des U-Bahn-
und des U-Stadtbahnnetzes jede mögliche Linien-Kombination.
- Depots und Wartungseinrichtungen müssen zwar in ihrer Kapazität
ausgebaut werden, teure Spezialgeräte können aber, die Betriebskosten
senkend, mitgenutzt werden (wenn auch die auf drei Wagen
modifizierten DT4-Züge der U-Stadtbahn andere Anforderungen an die
Wartung stellen dürften).
- Die Anzahl der Fahrzeuge, die als Reserve für Ausfälle vorgehalten
werden muß, kann geringer sein.
- Das Ausbinden aus den Hoch- und Tunnelstrecken der U-Bahn und die bei
ebenerdigen Stationen notwendigen Hochbahnsteige verleihen der
U-Stadtbahn das Image einer U-Bahn.
- Die hohen Bahnsteige schützen bei einer Trassenführung in der
Straßenmitte die wartenden Fahrgäste vor dem an der anderen
Bahnsteigkante vorbeibrausenden Autoverkehr.
- Durch das Einfädeln in die U-Bahnstrecken kann die U-Stadtbahn im
inneren Stadtbereich höhere Reisegeschwindigkeiten erzielen als eine
Niederflur-Straßenbahn.
- Im Gegensatz zu den auf Straßencaf‚-Höhe sitzenden Fahrgästen der
Niederflur-Straßenbahn sitzen die Fahrgäste einer U-Stadtbahn fast einen
Meter höher und damit in einer gegenüber vorbeifahrenden LKW's
psychologisch angenehmeren Höhe.
- Die Mitnutzung der U-Bahntrassen hilft erhebliche Baukosten sparen.
- Bestehende U-Bahnlinien können zu den deutlich niedrigeren Baukosten
einer Stadtbahn verlängert werden.
- Mit dem Bau einzelner U-Stadtbahnlinien kann ohne Realisierung eines
betriebswirtschaftlich notwendigen eigenen Grundnetzes begonnen werden,
weil dieses schon in Form des U-Bahnnetzes existiert.
- Da eine Kombination von U-Bahn und Straßenbahn als U-Stadtbahn für
Deutschland neu wäre, könnten evtl. Mittel aus dem Forschungsetat zur
Mitfinanzierung eingeworben werden.
- Die Notwendigkeit, beim Einfädeln ins U-Bahnnetz eine hohe Pünktlichkeit
zu erzielen, macht es bei der U-Stadtbahn leichter, Qualitätsstandards
wie eigene Trassen und Ampel-Vorrangschaltung durchzusetzen.
Nachteile der U-Stadtbahn:
- Es können kaum mehr als drei neue Linien mit in der Regel je zwei
Endstationen aus dem jetzigen U-Bahnnetz von drei Linien ausgebunden
werden. Für weitere Linien müßten im Innenstadtbereich neue
Tunnelabschnitte gebaut werden.
- Das Einfädeln ins U-Bahnnetz stellt hohe Anforderungen an die
Pünktlichkeit der U-Stadtbahnzüge, damit diese nicht den Fahrplan der
reinen U-Bahnen, die nicht durch niveaugleiche Kreuzungen behindert
sind, durcheinanderbringen.
- Auch in den Abschnitten, in denen die U-Stadtbahn auf Straßenniveau
geführt wird, sind bis zu 90 cm hohe Bahnsteige mit seitlichen Rampen
erforderlich, um für Behinderte, Fahrgäste mit Kinderwagen, Fahrrädern
u.ä. ein stufenloses Ein- und Aussteigen zu ermöglichen.
Solche Bahnsteige können im engeren Straßenbereich aus Platzgründen
schwierig zu errichten sein.
- Hohe Bahnsteige sind bei größerem Fahrrad-Aufkommen von Nachteil, da
sie nur an seitlichen Rampen betreten und verlassen werden können.
Entprechendes gilt für U-Bahnstationen in Hoch- oder Tieflage, soweit
sie noch keine Aufzüge haben.
- Für Abzweigbauten sowie für auch bei U-Stadtbahnlinien unter Umständen
notwendig werdende ergänzende U-Bahnabschnitte bis zu einem Ort, an
dem ein Ausbinden möglich ist, fallen etwa die Kosten einer gleich
langen U-Bahnstrecke an.
3. Kombination eines Niederflur-Straßenbahnsystems
mit der Verlängerung bestehender U-Bahnlinien als U-Stadtbahnlinien
Der alleinige Ausbau des U-Stadtbahnsystems ermöglicht wegen der
begrenzten Tunnelkapazität in der Innenstadt die Einrichtung von kaum
mehr als sechs U-Stadtbahnlinien. Daher könnte es notwendig sein,
Niederflur-Straßenbahnlinien zusätzlich zu bauen,z.B.für
Tangential-Verbindungen.
Vorteile dieser kombinierten Lösung:
- Der Bau der Stadtbahn kann bei einer angestrebten Kombi-Lösung mit der
U-Stadtbahn beginnen. Niederflur-Straßenbahnlinien können später folgen
- benötigen aber aus betriebswirtschaftlichen Gründen wieder ein eigenes
Mindestgrundnetz.
- Durch U-Stadtbahnen und Hochbahnsteige auf einigen Strecken sowie
durch einheitliches Farbdesign und Numerierung aller Stadtbahnlinien
kommt die gesamte Stadtbahn nahe an das Image der U-Bahn heran.
Nachteile dieser kombinierten Lösung:
- Niederflur-Straßenbahn- und U-Stadtbahnlinien können Streckenabschnitte
nur gemeinsam nutzen, wenn die Bahnsteige wegen der unterschiedlichen
Einstieghöhe der Waggons doppelt hintereinander gebaut werden.
Alternativ können die U-Stadtbahnwagen mit ausklappbaren Trittstufen
ausgestattet werden, die allerdings nicht behindertengerecht sind.
- Die Nutzung gemeinsamer Wartungseinrichtungen der
Niederflur-Straßenbahn mit der U-Stadtbahn wird nur sehr begrenzt
möglich sein.
- Beim Kombi-System wird im Vergleich zu einer reinen
Niederflur-Straßenbahn deren Umfang geringer ausfallen, da einige
Stadtteile durch U-Stadtbahnlinien erschlossen werden. Größenvorteile des
Systems können so nicht voll genutzt werden.
Anstelle zusätzlicher Niederflur-Straßenbahnlinien wäre alternativ im
Außenbereich auch der Bau von weiteren U-Stadtbahnlinien im
Straßenniveau mit Hochbahnsteigen denkbar, um bei einem einheitlichen
System zu bleiben.
Die Liste der systemspezifischen Stärken und Schwächen ist nicht als
abgeschlossen zu betrachten. (gekürzt)
(Norbert Holtz, 20253 Hamburg)
Anmerkungen der HFI-Redaktion:
Norbert Holtz hat hier dankenswerterweise nochmal die Vor- und Nachteile
der beiden Stadtbahn-Systeme übersichtlich aufgelistet, um eine anstehende
Entscheidung zu erleichtern. Dennoch haben sich bei ihm einige
Mißverständnisse eingestellt:
Nach dem Konzept der FIH gibt es keine U-Stadtbahn-Linien, die sich
kurvenreich durch enge Wohnstraßen schlängeln, wie es noch im ersten
Stadtbahn-Gutachten vorgesehen war.
Auch Ottensen könnte auf Hauptstraßen großräumig umfahren, und der
Bahnhof und das Rathaus in Altona dennoch mit angeschlossen werden.
Neben zwei herkömmlichen U-Bahn-Diagonallinien sind bis zu fünf
zusätzliche U-Stadtbahnlinien mit 14 Zielstationen ohne Engpässe im
U-Bahnfahrplan möglich, und ohne daß in der City etwas gebaut werden
muß. Damit, (und mit den vorhandenen fünf Ästen der Gleichstrom-S-Bahn)
können fast alle Außenbezirke attraktive Innenstadt-Verbindungen erhalten.
Etwa fehlende Quer- und Tangentialverbindungen würden weiterhin von
Linienbussen bedient. Zusätzliche Straßenbahnlinien wären dann ebenso
entbehrlich wie Schnellbusse.
Auch eine vielseitige Flughafen-Anbindung, die nicht nur den
innerstädtischen Fluggästen nützt, sondern auch die Luftwerft als den
größten Arbeitgeber der Stadt mit einbezieht, ist dabei vorgesehen.
Für weitere Einzelheiten müssen wir auf HFI 53 - 3/96 verweisen, wo
diese Pläne ausführlich dargestellt und erläutert wurden.
Die Diskussion um eine zweckmäßige Flughafen-Anbindung gerät endlich in
eine heiße Phase. Bei dem Plenum am 7. Januar hatten wir den Eindruck,
daß man bei der Hamburger SPD die Bedeutung der Flughafen-S-Bahn
überschätzt, die nur einer Minderheit von Fahrgästen nützt, aber alle
verfügbaren Mittel verschlingt, so daß nichts anderes gebaut werden kann.
In der öffentlichen Meinung genießt vielmehr die Stadtbahn höchste
Priorität. Daher kann man ohne einen sichtbaren Einstieg in diese
Baupläne nicht noch einmal in die nächste Bürgerschaftswahl gehen!
(fih)
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Stand: 14 Apr 99